Selbstwirksamkeit
Kulturelle Teilhabe im Kontext digitaler Medien – eine regionale Bestandsaufnahme
Ein Beitrag von Andreas Brand*
Musik und Klang sind omnipräsente Elemente einer Vielfalt von Ausdrucksformen, die unsere Gesellschaft sowie unseren Platz in dieser Gesellschaft repräsentieren und definieren. Digitale Technologien eröffnen Menschen mit Behinderung neue Interaktionsebenen mit Klängen aller Art und fördern den aktiven Zugang zu kulturellen Inhalten. Dadurch wird Lebensqualität und -freude der Betroffenen gestärkt sowie kulturelle Teilhabe verwirklicht.
Besonders für Menschen mit schweren Beeinträchtigungen und einer damit einhergehenden Unterstützung in nahezu allen Alltags- und Lebenssituationen, bietet die Digitalisierung besondere Erfahrungen der Selbstwirksamkeit. Das fängt bei den kleinen Dingen des Lebens an und erstreckt sich bis hin zu klanglichen Interaktionen. Das Projekt „IAVI“ der Hochschule Furtwangen und der Musikhochschule Trossingen sowie das Projekt „Musiklusion“ mit seinem Ursprung an der Musikhochschule Trossingen beschreiten neue und unkonventionelle Wege, Menschen mit Behinderung einen barrierefreien Zugang zu Klang zu ermöglichen.
IAVI – INTERAKTIVE AUDIOVISUELLE MEDIENINSTALLATIONEN
Im Wintersemester 2018/2019 und im Sommersemester 2019 konzipierten und realisierten Musikdesignstudierende zusammen mit Furtwanger Studierenden Klanginstallationen für die Bregtalschule Furtwangen (ein Bildungszentrum für junge Menschen mit Behinderung). Im engen Dialog mit Schülerinnen, Schülern und Lehrenden der Bregtalschule sowie unter Begleitung von Prof. Dr. Norbert Schnell (Hochschule Furtwangen) und Andreas Brand (Musikhochschule Trossingen) entstanden fünf Arbeiten, die einen barrierearmen Zugang zu Klang sowie spielerische Förderung von
Bewegung und Koordination ermöglichen. Im Juli 2019 wurden die Klanginstallationen mit der Bregtalschule präsentiert. Einige finden seither Anwendung im Musikunterricht oder als offenes Angebot in Pausensituationen.
Die Klanginstallation des Musikdesignstudierenden Andreas Förster ergänzt das Bällebad der Bregtalschule durch eine klangliche Komponente. Diese Erweiterung bringt ein völlig neues „Badegefühl“ mit sich: Unterschiedliche Bewegungsmuster werden von einer Kamera erfasst und korrespondieren mit mystischen Unterwasserwelten oder Überwasserwelten mit hohem Wellengang. Finden keine bis wenige Bewegungen im Bällebad statt, beruhigt sich die programmierte Klangcollage zu einer meditativen Atmosphäre. Bei vielen bis turbulenten Bewegungen schichten sich Wasserklänge aufeinander und werden darüber hinaus durch das Werfen von Bällen in die Luft umgestellt oder anderweitig beeinflusst. Die inhaltliche Herausforderung dieser Klanginstallation lag vor allem darin, ein kurzweiliges Klangdesign zu entwickeln, sodass die Verweildauer nicht nach wenigen Momenten endet. Andreas Förster experimentierte hierfür mit unterschiedlichen Klangquellen, die nach definierten Strukturen oder per Zufallsalgorithmen angeordnet werden.
Die eHang des Medienkonzeptionstudierenden Peter Bandle greift das Prinzip und die Optik einer herkömmlichen Hangdrum auf, funktioniert aber rein digital. Mithilfe kapazitiver Sensoren kann sie auch von Menschen mit motorischen Einschränkungen gespielt werden, die das herkömmliche Instrument nicht spielen können: Die Sensoren wirken wie eine Art Näherungsschalter – es genügt bereits (je nach Einstellung) sich den Sensoren zu nähern um mit Klängen zu interagieren. Das für manche Menschen bereits komplexe Auflegen einer Hand oder Antippen mit einem Finger wird umgangen, um einem größtmöglichen Personenkreis das Spielen der eHang zu ermöglichen. Zudem ist die eHang nicht nur mit Klängen einer Hangdrum bestückt, sondern wird durch verschiedene Klangregister wie perkussive Elemente oder selbst aufgenommene Geräusche erweitert. Die Hinzunahme weiterer Register ist unbeschränkt.
Drei weitere Installationen sowie ergänzende Informationen unter https://projektiavi.wordpress.com.
MUSIKLUSION
Seit dem Jahr 2015 findet fortwährend das Projekt „Musiklusion – Barrierefreies Musizieren mit digitalen Medien“ von Andreas Brand an der Lebenshilfe Tuttlingen statt. In verschiedenen Projektabschnitten setzt sich Musiklusion mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten auseinander und entwickelt den Technologieeinsatz im Kontext barrierefreien Musizierens kontinuierlich weiter. Im Zentrum der Projekte stehen jedoch nicht nur technische Herausforderungen, sondern auch Chancen, inklusive Musizierformate mit und für Menschen mit Behinderung zu erkunden und neu zu denken. Dahinter verbirgt sich auch die Intention, dass Menschen mit und ohne Behinderung auf Augenhöhe gemeinsam agieren.
Die jüngste Errungenschaft im Musiklusion-Projekt ist ein Disklavier. Das bekannte System des klimpernden Selbstspielers eröffnet im Inklusionsumfeld völlig neue Interaktionsmöglichkeiten. Menschen, die aufgrund von Lähmungen oder anderen Einschränkungen im Entferntesten nicht daran geglaubt haben, ein Klavier spielen zu können, bewegen urplötzlich 88 Tasten. Konkrete Anwendung findet das Disklavier im wöchentlichen Singkreis der Lebenshilfe: Die Möglichkeit, dass faktisch alle Teilnehmenden über einfache Eingabeformate das Klavier zum Klingen und damit den Singkreis zum Singen bringen, sorgt immer wieder für emotionale Momente. Ziel ist es jedoch nicht nur „einfache Musikstücke“ akkordisch zu begleiten oder bekanntes Repertoire nachzuspielen, sondern eigene Formen des Ausdrucks zu entwickeln. Dieser Prozess fängt bei der Auswahl und stetigen Anpassung des Eingabeformats an und endet bei Algorithmen, die Töne erklingen lassen. Das Disklavier wird also nicht durch Miniaturnachbildungen einer Klaviatur gesteuert, sondern über Smartphone-Apps, Stepsequenzer, Druckknöpfe, Schieberegler, Abstandssensoren, Lichtsensoren, et cetera. Die Übersetzung dieser abstrakten Eingabeformate in musikalische Strukturen wird kontinuierlich weiterentwickelt und zunehmend komplexer gestaltet – sowohl in Bezug auf das Eingabeformat, als auch auf die Tonausgabe. Das Entwicklungspotential lässt sich mit herkömmlichen Steigerungsstufen des Klavierübens vergleichen, nur eben mit digitalen Medien und anderen Methoden.
Bei der Veranstaltung „Kunst und Kultur in der alten Schmiede“ der Firma Aesculap AG in Tuttlingen im November 2019, kam das Disklavier erstmalig zum Einsatz auf der Bühne. Mit Smartphones und Tablets entlockten die Musiklusion-Teilnehmenden Peter Schaz und David Dora dem Disklavier Klänge, auf die Sebastian Behrendt seinen Rapgesang und Beatbox-Passagen zum Besten gab. An einer Kulturveranstaltung teilnehmen, auf der Bühne stehen, aktiv Musizieren, Emotionen spüren, Applaus erhalten - eine Lebenspremiere in vielerlei Hinsicht und für die Musizierenden der Lebenshilfe Tuttlingen ein besonderes Erlebnis der Selbstwirksamkeit.
Durch einen erfolgreichen Antrag im Rahmen der baden-württembergischen Förderlinie „Impulse Inklusion“ (Ministerium für Soziales und Integration) wird das Projekt im Jahr 2020 mit 17.900 Euro bezuschusst. Das Ziel: Die Entwicklung inklusiver Ensembleformaten für Menschen mit und ohne Behinderung.
Eine Reise durch verschiedene Musiklusion-Projekte ist unter www.musiklusion.de abrufbar.
* Andreas Brand ist Musiker, Musik- & Sounddesigner, Jazz-Pianist und Projektentwickler mit Lebensmittelpunkt in Baden-Württemberg. Er studierte Musikdesign an der Musikhochschule Trossingen. Seit Oktober 2015 lehrt er im Studiengang Musikdesign und verantwortet die Studiengangskoordination. In seinen außerhochschulischen Tätigkeitsfeldern realisiert er Inklusions-Projekte und entwickelt Klänge im Kontext digitaler Medien.