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Auf der grünen Wiese – Neue Musik im ländlichen Raum

Eine Slide-Show-Komposition für den Trossinger Klangpavillon

Seit Mai 2019 verfügt die Musikhochschule Trossingen mit dem „Trossinger Klangpavillon“ über eine ganz besondere Spielstätte. Die Konzert-Jurte mit einem Raumklangsystem aus 32 Lautsprechern und Bodenvibration findet in der warmen Jahreszeit ihren Platz auf der grünen Wiese des Hochschulgartens und ermöglicht dort einem breiten Publikum einen offenen Zugang zu neuen Musikerlebnissen und Teilhabe an künstlerischen Konzepten, die an der Musikhochschule erkundet und erprobt werden.

Open Source Ensemble und Niklas Seidl als Gastkomponist

Anfang 2019 formierte sich mit dem Open Source Ensemble eine Formation besonders engagierter und herausragender Studierender, die sowohl großes Interesse an zeitgenössischer Musik wie auch an neuen Konzertformen und -konzepten mitbringen. Das Ensemble wird von Prof. Sonja Lena Schmid, Professorin für Ensemble und Digitale Performance am Landeszentrum MUSIK–DESIGN–PERFORMANCE, betreut.

Im Rahmen des Projekts „Auf der grünen Wiese – Neue Musik im ländlichen Raum“ entwickelt Gastkomponist Niklas Seidl zusammen mit den Musikern des Open Source Ensembles eine Slide-Show-Komposition für den Klangpavillon. In den künstlerischen Prozess sind neben den Studierenden auch Laien einbezogen: dazu gehören Gespräche, Besuche in der beruflichen oder alltäglichen Umgebung der Menschen, das Erproben des Klangpavillons sowie das Umsetzen des klanglichen Materials in zeitgenössische instrumentale Klangsprache.

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Spielerische Erprobung des Klangpavillons

Ein Mikrofon, ein mit Effekten vorprogrammiertes Pedalboard, eine speziell programmierte Software: dadurch ist es niedrigschwellig möglich, die klanglichen Möglichkeiten des Pavillons und seines Raumklangsystems zu erfahren. Dazu können jedes Instrument, die Stimme oder auch Alltagsgegenstände wie Küchengeräte etc. eingesetzt werden. Dr. Joachim Goßmann von der Trossinger Abteilung Medienkompetenz betreut dieses Projekt klangtechnisch und wird es an mehreren Terminen im Sommersemester 2020 auch für Menschen aus der Trossinger Bevölkerung öffnen. Dabei sollen auch Studierende mit einbezogen werden und in musikalischen Dialog mit den Gästen treten.

„Auf der grünen Wiese – Neue Musik im ländlichen Raum“ ist ein Projekt des Landeszentrums MUSIK–DESIGN–PERFORMANCE an der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen im Auftrag des Netzwerks Neue Musik Baden-Württemberg. Das Projekt wird gefördert durch das Sonderprogramm "Gesellschaftlicher Zusammenhalt – Förderung von künstlerischen und kulturellen Projekten" des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg.

Die Studierenden, die aus verschiedenen Ecken der Welt kommen, schwärmen in den kommenden Wochen aus, um Menschen der älteren Generation in Trossingen kennen zu lernen, zu interviewen und Orte der Stadt zu photographieren, von denen die Menschen erzählen. Schwerpunktmäßig steht dabei die Befragung über die Präsenz des Todes in Leben und Alltag der Menschen an. Wie bereits Norbert Elias in seinem Buch „Über die Einsamkeit der Sterbenden“ feststellte, wird der Tod weitestgehend aus unserer Gesellschaft verdrängt, ist jedoch für die ältere Generation ein herannahendes Thema. Diese Verdrängung wird hier unterbrochen und der Öffentlichkeit zugänglicher gemacht.

Ein technischer Gedanke des Stückes ist die Verbindung von Stillstand und Geschwindigkeit, übertragen auf das Medium der Photographie und des Films. Der Film, ursprünglich als eine schnelle Abfolge von Einzelbildern produziert (das bewegte Bild), stellt dabei die Geschwindigkeit dar, das Einzelphoto den Stillstand. Eine schnelle Aneinanderreihung der Photos, die aber noch nicht die Geschwindigkeit des Films erreicht, erzeugt aber dennoch eine Geschwindigkeit, während ein Film eine extrem langsame Bewegung zeigend einen Stillstand vortäuschen kann.

Die Video- und Photoarbeiten der Studenten werden unter diesem Aspekt komponiert, um zu einer Stückabfolge zu gelangen.

Der Tod als Synonym für den Stillstand kann im Verwesungsprozess wieder Bewegung erzeugen, während das Leben in seiner ständigen Wiederkehr von allen möglichen Zyklen (Tage, Erdumdrehung etc) als Stillstand wahrgenommen werden kann. In diesem Rahmen werden die technische und soziale Komponente der Bewegung zusammengeführt.“

Musikalisch schreibt Niklas Seidl für das Ensemble eine Musik, die sich zunächst an einem Mickey-Mousing orientiert (ein Klang pro Bild) und dann davon abweichend die Ideen des Stillstands und der Bewegung in der Musik bearbeitet. Das Bassinstrumentenquintett mit Kontrabass, Cello, Posaune, Akkordeon und Schlagzeug wird mit seiner einzigartigen Klangcharakteristik den Kompositionsprozess deutlich beeinflussen, vor allem aber werden die Interviewaufnahmen und Photoarbeiten der Studenten das Stück prägen und den weiteren Verlauf festlegen.

Der Komponist Niklas Seidl, geboren 1983, studierte in Leipzig, Wien und Köln Komposition, Cello sowie Barockcello. Sein Interesse an der zeitgenössischen Musik brachte ihn als Cellist zu regelmäßigen Gastauftritten bei Ensembles wie Klangforum Wien, Ensemble musikFabrik, Stuttgarter Vocalsolisten, Ensemble ascolta, ensemble SurPlus, Thürmchen Ensemble, SCHOLA Heidelberg, dem HR-Symphonieorchester sowie diversen Kammermusik- und Solokonzerten. Er ist Gründungsmitglied des Kammermusikensembles hand werk (www.ensemble-handwerk.eu) in Köln sowie von leise dröhnung (http://www.leisedroehnung.de) in Frankfurt.

Seit 2005 arbeitet er an Hörstücken, einige davon waren auf Festivals und im Radio zu hören (u.a. ARD, BR, hr2). Seine Instrumentalkompositionen wurden u.a. bei Wien Modern, bei den Darmstädter Ferienkursen, auf Schloss Solitude sowie im Deutschlandfunk Köln und im Rahmen des Festivals Zukunftsmusik des Netzwerk Süd, sowie von Ensembles wie SurPlus, hand werk, Ensemble Mosaik, Thürmchen, Exaudi London, Schlagquartett Köln, IEMA Frankfurt; Garage, Decoder, Oh-Ton und MAM (www.manufaktur-aktuelle-musik.de) aufgeführt. Unter den ihm verliehenen Stipendien wären zu nennen: 2012 Staubach-Honoraria Darmstadt, 2012 Bernd-Alois-Zimmermann-Stipendium der Stadt Köln, 2013 1. Preis Ensemblia-Wettbewerb der Stadt Mönchengladbach, 2014 Stipendiat Künstlerhof Schreyahn, 2015 Stipendiat der Kunststiftung NRW in Istanbul, 2016 Stipendiat der Akademie der Künste Berlin, 2017 Stipendium des Umweltbundesamtes auf Vilm.

Das Stück, concrete and cars von Niklas Seidl, ist im Rahmen eines Projektes des Netzwerks Neue Musik entstanden, das Neue Musik im ländlichen Raum unterstützt und ermöglicht.
Die Idee des Komponisten Niklas Seidl war, dass sich Trossinger Studierende mit ihrer Stadt und den Menschen in Trossingen auseinandersetzen. Viele Studierende haben ja manchmal das Gefühl, dass unsere Hochschule wie ein Ufo in dieser kleinen Stadt gelandet ist.

Wir haben Ende des letzten Jahres begonnen und die Musiker haben selbst viele, viele Fotos von Trossingen gemacht. Man sieht Gebäude und besondere Orte, aber auch ziemlich viel Schuhe. Der Komponist hat diese Bilder zu einer Slide-Show montiert und komponiert. Diese Kompositiontechnik - ein Ton pro Bild- nennt man auch „Mickey-Mousing“.

Im nächsten Schritt sollten die Musiker Interviews mit alten Menschen in Trossingen führen und sie zu ihrem Leben und bestimmten Orten in Trossingen befragen. Aber dann kam Corona… also ist diese Komposition auch ein Dokument von Social Distancing. Man sieht fast keine Menschen, man sieht und hört vor allem concrete and Cars, also Beton und Autos.

Eine kleine Hommage an die Geschichte von Trossingen gibt es auch: wir benutzen alte Meldodikas der ursprünglich Trossinger Marke Hohner, die um Mikrotöne verstimmt sind. Dazu wurden sie geöffnet und die Labien wurden manipuliert. Diese Mikrotonalität zieht sich durch das ganze Stück Stück. Viel Spass mit concrete and cars!“

Mit diesen Worten kündigte der Posaunist Quinn Parker, Student an der Hochschule für Musik Trossingen, die Uraufführung des im Rahmen des Projektes „Auf der grünen Wiese“ entstandenen Stückes an. Vorangegangen war, er lässt es anklingen, eine wechselvolle Entstehungszeit.

Die ersten Treffen des Komponisten mit den jungen Musiker*innen des Open Source Ensembles und der Initiatorin, Prof. Sonja Schmid, fanden im Februar 2020 statt. Zunächst wurden das Ensemble, zu diesem Zeitpunkt bestehend aus Lasma Vitola, Violine, Zacharias Fasshauer, Kontrabass, Nepomuk Golding, Akkordeon und Quinn Parker, Posaune, mit Arbeitsweisen und Werk von Niklas Seidl vertraut gemacht und die besondere Verbindung von Bild und Ton diskutiert, die auch das neue Werk charakterisieren sollte. Thematisiert wurde hier die ungewöhnliche ländlich-kleinstädtische Umgebung der Hochschule, welche alle Beteiligten für das neue Stück fotografisch einfangen sollten. Die Blickwinkel waren hier recht divers: von der Erasmus-Studentin aus Tallinn, die erst wenige Monate vor Ort war, bis zum langjährigen Trossinger Studenten, der jeden Winkel zu kennen glaubte.

Die Bilder, die absichtlich eher nach dem Prinzip „Masse statt Klasse“, also bewusst ohne professionell fotografisch-technische Ambitionen entstanden, fangen auf merkwürdig verstörende Weise den Blick der jungen Menschen auf ihre Stadt ein. Viel Verfall ist zu sehen, Leerstand, skurrile Hinweisschilder und Geschäftswerbungen, immer wieder Beton und viele, viele Autos, die die einzige Geschäfts- und Gastronomiestrasse der Stadt ungebremst mit erstaunlicher Geschwindigkeit durchfahren.

Niklas Seidl hat die Flut der Bilder dramaturgisch so montiert, dass das Publikum von idyllischer Natur auf ländlichen Pfaden in die Stadt geführt und dass Hässlichkeit und Betondominanz quasi immer mehr überhandnehmen.

Die wenigen eingestreuten Videos dokumentieren etwa eine traditionelle Trossinger Karnevalsveranstaltung, wobei auch der Original-Kameraton im Schunkelrhythmus in die Komposition übernommen wurde. Bilder, die zum Zeitpunkt der Uraufführung im November 2020 geradezu grotesk gesellig wirken.

Denn bald schon war im Zuge des Projekts klar, dass die ursprünglichen Ideen an die pandemiebedingten Beschränkungen angepasst werden mussten.

Nicht nur die beiden Aufführungstermine beim Podium Festival Esslingen und bei den Ateliertagen in Trossingen im Mai mussten abgesagt werden, auch der zweite inhaltliche Schwerpunkt des Projektes, der Kontakt und das Gespräch mit älteren Menschen über ihr Leben in der Stadt, konnte so nicht mehr stattfinden. Eine angedachte virtuelle Begegnung mit Bewohnern eines Seniorenheims scheiterte an der Überlastung der dortigen Mitarbeiter.

Durch die Einrichtung digitaler Unterrichtsräume im Sommersemester konnten zumindest mehrere Proben in virtuellem Beisein des Komponisten stattfinden, aber durch das Wegfallen des Aufführungsziels und der Fluktuation unter den beteiligten Studierenden war es nicht einfach, das Projekt am Leben zu erhalten. Im Herbst 2020 war es dann möglich, in der Hochschule zumindest interne Konzerte im Konzertsaal mit 50 Personen Publikum durchzuführen. Ausführenden waren Sarah Bernhardt, Violine, Matthias Arbter, Gitarre, Nepomuk Golding, Akkordeon, Quinn Parker, Posaune und Maike Stumpf, Kontrabass.

Für den Klangpavillon als geplante Konzertlocation war es da schon zu kalt- eine weitere Änderung im Projektverlauf, die aber in puncto Akustik und Großer Leinwand auch Vorteile brachte. Die Anwesenden waren tief beeindruckt und es gab mehrfach den Vorschlag, das Werk auch den Verantwortlichen der Stadtpolitik zu zeigen, um ihnen den nicht immer positiven Blick junger Menschen auf den öffentlichen Raum zu ermöglichen- ein Vorschlag, dem die Initiatorin gerne folgen wird.

Ein Projekt des Netzwerk Neue Musik Baden-Württemberg, gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg im Sonderprogramm "Gesellschaftlicher Zusammenhalt – Förderung von künstlerischen und kulturellen Projekten"

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