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  • Di. | 19. 10. 2021
  • Personalia / Engagements

Zum Tode von Christoph Deblon

Am 31. Juli dieses Jahres verstarb Christoph Deblon, der als langjähriger Leiter die Bibliothek der Trossinger Hochschule maßgeblich geprägt und sie zu einem Ort gemacht hat, an dem wissenschaftliche und künstlerische Projekte gedeihen konnten. Ein Nachruf von Prof. Dr. Thomas Kabisch:

Christoph Deblon wuchs mit zwei Geschwistern in Gronau/Westfalen in einem Elternhaus auf, in dem es Bücher, Bilder, Musikinstrumente und -noten gab. Nach dem Abitur begann er ein Studium in Münster. Doch prägend für sein Denken über Musik wurde das Studium an der FU Berlin bei dem Musikwissenschaftler Rudolf Stephan. Hier schloss er Themenfelder für sich auf, die ihn hinfortan ständig beschäftigen sollten: die Musik der Zweiten Wiener Schule, Schönberg insonderheit, Fragen der Aufführung in der Tradition Rudolf Kolischs, die Musik Anton Bruckners, Robert Schumann. Unter den Kommilitonen an Stephans Institut fand er Gesprächspartner, mit denen er – zu nennen sind Reinhard Kapp, Michael Kopfermann oder Karoly Csipák – zeitlebens in Verbindung blieb.

1979-1982 absolvierte Christoph Deblon eine Ausbildung zum Diplom-Bibliothekar, arbeitete anschließend ein Jahr an der Amerika-Gedenk-Bibliothek. 1983 übernahm er die Leitung der Hochschulbibliothek in Trossingen und ging 2012 in den Ruhestand. Eine ausführliche Würdigung erfuhr sein bibliothekarisches Wirken im März 2013 durch Martina Rommel und Kathrin Winter in der Zeitschrift „Forum Musikbibliothek“. Im Mai 2013 verabschiedeten und ehrten ihn Freunde und Weggefährten mit einem Symposium in der Trossinger Hochschule, in dem es um Themen aus seinem Interessenspektrum ging. Deblon selbst sprach über Voraussetzungen und Aktualität der durch Rudolf Kolisch angestoßenen Diskussion von Tempofragen: Der Charakter der Bagatelle op. 119, Nr. 1 von Beethoven erschließt sich, wenn die originale Vorschrift „Allegretto“ respektiert wird. Dann ist, wie Deblon demonstrierte, in einer im Internet zugänglichen Einspielung einer jungen chinesischen Amateurpianistin, die ein stabiles zügiges Tempo und einen freundlichen Ton anschlägt, mehr von Beethovens Intentionen zu hören als in Aufnahmen hochgeschätzter Meisterpianisten, die sich melancholisch seufzend durch das Stück winden und mehr dem Stereotyp „Moll heißt traurig“ vertrauen als Beethovens Zeichen in der Partitur.

Christoph Deblon hat unablässig musikwissenschaftlich gearbeitet. Er hat viel geschrieben, aber außer wenigen kleinen Aufsätzen über Beethoven, Schumann, Halm, die an entlegener Stelle erschienen sind, kaum publiziert. Eine umfangreiche Arbeit über Schumanns „Faust-Szenen“ und die „Waldszenen“ oder einen Text über die „Geister-Variationen“, die er Freunden und Kollegen zu lesen gab, forderte er wenig später zurück. Die eigenen Zweifel waren stärker als die überaus positive Resonanz, die die Texte bei den Lesern fanden. Ein Verzeichnis der Uraufführungen des Kontarsky-Duos, das er für die 1992 von ihm als Mitherausgeber betreute Festschrift anlässlich der Verleihung des August-Halm-Preises an Aloys Kontarsky erarbeitete, ist bis heute ein regelmäßig genutztes und zitiertes Arbeitsinstrument der Musikforschung zur Nachkriegszeit geblieben.

Die Trossinger Hochschulbibliothek verdankt Christoph Deblon viel. Auf ihn geht das enorm praktikable Signaturensystem zurück, das die Freihandnutzung auch solchen Menschen leicht macht, die eine wissenschaftliche Bibliothek nur selten oder zögernd betreten. Er hat eine intelligente Bestandspflege betrieben, sowohl die Schwerpunkte ausgebaut als auch die Lücken gepflegt, mit denen gerade eine kleine Bibliothek klug umgehen muss. Deblon hat drittens den Übergang von Zettelkatalogen zum digitalen Katalog vollzogen. Deutschlandweit war er als Experte für das Katalogsystem Allegro geschätzt und wurde von Bibliothekskollegen in Problemfällen um Rat gefragt. Schließlich verdanken die Besucher der Bibliothek Christoph Deblon auch den Genuss der wunderbaren Gemälde des Münchner Malers Helmut Berninger, die als Leihgaben an den Stellen hingen, die noch regalfrei waren.

Mit einer glücklichen Mischung aus höflicher Distanz und wirklicher menschlicher Verbundenheit hat er es verstanden, ein Klima des kollegialen Miteinanders zu pflegen, in das seine beiden langjährigen ständigen Mitarbeiterinnen, Margitta Dörner und Astrid Brodbeck, ebenso einbezogen waren wie aushilfsweise temporär Beschäftigte und die studentischen Hilfskräfte. Ungeachtet der Fülle von Aufgaben, die er zu bewältigen hatte, machte er immer wieder und gern „Tresendienst“ und beriet Studenten, die für musikalische Praxis, für Theorie oder Wissenschaft Material suchten. Geschätzt war Christoph Deblon ob seiner Seriosität und Zuverlässigkeit auch bei der Verwaltungsleitung der Hochschule – ein besonders zu Zeiten des kameralistischen Systems wichtiger Umstand, dem die Bibliothek manch kräftige zusätzliche Finanzspritze gegen Jahresende zu verdanken hatte.

Im Mai 2021, wenige Wochen vor seinem Tod, konnte Christoph Deblon eine Analyse zu Mendelssohns Vertonung des Gedichts „Die Liebende schreibt“ von Goethe abschließen. Die Studie endet mit Sätzen, in denen neben dem ästhetischen Sachverhalt auch Deblons eigene Beziehung zur Tonkunst pointiert zum Ausdruck kommt:

Wenn es zur sog. kunstreligiösen Musikauffassung gehört, daß "die Musik selbst" Trost spendet, sie "selbst jene Instanz [ist], welche vordem von ihr und durch sie angerufen wurde" (Reinhard Kapp) -, so ist Mendelssohns Lied ein Beispiel einer solchen Kunstreligion. Es ist eine unaufdringliche, die in bescheidener Gestalt erscheint: sie verspricht Freundlichkeit, nicht mehr und nicht weniger.

Thomas Kabisch